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Die Kinder vom Fischmarkt

Die Kinder vom Fischmarkt

Das Leben nach der Feuersbrunst in der Stadt Zerbst

Ausschnitte aus „Die Kinder vom Fischmarkt“ Helmut Hehne

1945 eine Zeitenwende. Eine noch nie da gewesene unmenschliche Zeit war zu Ende. Alles zerstört, verwüstet, besiegt und besetzt; obendrein wurde Deutschland noch geteilt Ganz Europa war einem Wahn unterlegen gewesen!
Das nicht zu verstehende Sterben hatte endgültig ein Ende. Die Eltern nannten es den Umsturz. An den Straßenrändern und sogar mitten in den Trümmerbergen der zerstörten Häuser saßen alte Mütterchen, die das alles nicht verstehen konnten. Eine sagte zu mir: „Jungchen das verstehst du noch nicht, was alles passierte, ohne Sinn und Verstand!“
Man sah, dass alle nur einen Gedanken hatten – zu überleben, ganz einfach, nur erst einmal überleben. Während der kurzen Zeit der Besetzung unserer Stadt durch die Amerikaner, stand eines Tages ein amerikanischer Offizier auf einem Trümmerberg eines Hauses und versuchte sich zu orientieren. Er hatte Zerbst mit umkämpft. Ein Zerbster Bürger fragte nach seinem Verlangen? Er war der Nachfahre eines Geschäftes, welches die Nazis enteignet hatten. Seine Vorfahren waren jüdische Bürger und bereits tot.
Die Kinder vom Fischmarkt, heute schon Großmütter und Großväter, fragen immer noch:
Warum habt ihr unsere Häuser zerstört?
Warum brannte der Himmel?
Warum bekamen wir in der Not nichts zu trinken?
Warum habt ihr uns überhaupt wehgetan?
Warum müssen wir weg von der Stätte unserer Kindheit?

Fischmarkt, dahinter St. Nikolai

Alle flüchteten aus der Stadt in die Dörfer. Die Landstraßen dorthin waren die „Jagdreviere“ der alliierten Tiefflieger. Meine Familie wurde von einem PKW nach Pulspforde gefahren. Bevor wir einstiegen, musste sich jeder Zweige und Fichtengrün vom Heidetorfriedhof um den Körper binden, damit der auf „Hasenjagd“ machende Tiefflieger uns arme flüchtenden Menschen nicht erkennen sollte. Unterwegs mussten wir auch mehrmals volle Deckung im Chausseegraben suchen. Das Klatschen der Geschosse auf die Chaussee, man erinnert sich heute manchmal noch, wenn es ein ähnliches Geräusch gibt.
Nach dem Angriff folgte nun eines der schwersten Arbeiten für die Hinterbliebenen. Das Bestatten der Toten, so man sie überhaupt noch erkennen und identifizieren konnte. Am schlimmsten gestalteten sich die Bergungsarbeiten in den Kellern der Brauerei Lorenz Pfannenberg und in der Gaststätte Erbprinzen, beides in der Breiten Straße gelegen. Die Tafeln des Zerbster Heimatvereins erinnern an diese Zeit.
Die langen Reihen der Opfergräber auf dem Heidetorfriedhof schlossen sich.
Endlich Frieden! Bei Vielen liegt aber bis heute ein Mantel des Schweigens darüber. Man wird ihn auch nicht mehr lüften wollen.
Erst in den Jahren 1948/1949 ließ das Sterben nach. In einem Teil des Reihengrabes befinden sich 175 Grabstätten unter dem Rasen, wo es keinerlei Bekannte oder Verwandte mehr gab und bis heute gibt. In diesem Teil des Grauens, wird es keinen Lichtblick mehr geben. Sie alle fallen unter dem Begriff „Vermisst!“ Auch sie stehen auf den Grabkreuzen des Heidetorfriedhofes, die „Unbekannten“.

Fischmarkt 1909

Wo waren nur unsere Straßen geblieben? Man lief völlig orientierungslos durch die Stadt. Viele Besucher suchen sie heute noch. Wie etwa die Schulstraße, Färberstraße, Broihansgasse, Töpfergasse oder den Nikolaikirchhof? Sie alle wurden einfach weg gebombt. Nach der Enttrümmerung und nach dem Aushub der Erdmassen für die Neubauten in Zerbst - Nord, nahe der Nikolaikirche, sah ich täglich zu, um den Brunnen im ausgebaggerten Erdreich vom Haus Fischmarkt Nr. 7 noch einmal zu finden. An der Stelle, wo ich mich das erste Mal in meinem Leben ganz alleine fühlte, mit einer so großen Angst vor dem Tod und mit so mächtigen Kopfschmerzen und tränenden Augen. Er war einfach nicht mehr da. Ich konnte ihn nicht mehr finden. Schade, ich wollte mich symbolisch noch einmal bedanken, weil ich vielleicht durch sein Wasser noch einmal geboren wurde.
Der Chinese Dai Schi-ping schrieb bereits im 12. Jahrhundert in seinem Buch: „Dorf nach dem Krieg“,
welches auch für unsere Stadt nach dem verheerenden Bombenangriff zutrifft:
Pfirsichbäume blüh`n verwaist und Blumen herrenlos;
Von Raben dicht umlagert dampft das feuchte, weite Moos.
Um alte Brunnen da und dort nur Mauerreste steh`n.
Hier ragten früher weit und breit Gehöfte reich und groß.
Am 5. Mai1945 war entsprechend den Festlegungen des Potsdamer Abkommens die Ankunft der Roten Armee in Zerbst. Erster sowjetischer Stadtkommandant war Oberstleutnant Paramanow.
Da lag es nun, das alte Zerbst, und ... eine traurige Bilanz des 16. April galt es zu beseitigen, wieder herzustellen. Neues Leben musste entstehen.
In der Stadt Zerbst ist hinterlegt:
574 Todesopfer waren direkt durch den Bombenangriff zu beklagen.
Davon sind in Kellern, in Wohnungen, auf der Straße bzw.
in Parks ums Leben gekommen: 440 Personen
Selbstmord durch Vergiften: 8 Personen
Selbstmord durch Erhängen: 8 Personen
Selbstmord durch Erschießen: 1 Person
aufgefundene Tote: 38 Personen
Vermisste angezeigte Bürger: 36 Personen
im Zerbster Kreiskrankenhaus Verstorbene: 41 Personen
durch die Besatzungsmacht Erschossene: 2 Personen
nach dem 16. April noch Verstorbene 210 Personen
126 ha zerstörte Stadtfläche, es brannte noch überall,
372 000 Kubikmeter Trümmermassen müssten beseitigt werden,
1433 zerstörte Häuser sind wieder aufzubauen,
4130 vernichtete oder beschädigte Wohnungen müssen instand gesetzt werden.
16 beschädigte öffentliche Gebäude, von den 24100 Einwohnern der Stadt Zerbst waren nach der Zerstörung 13544 Menschen obdachlos. Über Nacht passierte das Alles.
Die verheerenden Schäden an den Versorgungsleitungen waren wieder herzustellen.
Ein anschließend befohlenes Aufräumen der Trümmermassen auf den Straßen erfolgte zuerst mit amerikanischen Bulldozern. Bei den großen Trichtern unmittelbar an der Einfahrt zur Post in der Puschkinpromenade und in der heutigen Fritz-Brand-Straße, konnte ich als Kind dabei zusehen.

der Fischmarkt in Zerbst

Trümmerfrauen – ein Wort mit einer so großen Bedeutung, heute gerade erst sechzig Jahre alt und es stand vor dem II. Weltkrieg in keinem Nachschlagewerk. Der alliierte Kontrollrat in Deutschland erließ am10. Juli 1946 ein Gesetz, dass Frauen und Kindern ab 14 Jahren die Beschäftigung bei Aufräumarbeiten erlaubt. Dadurch sollte der Mangel an männlichen Arbeitskräften ausgeglichen werden. Weil viele Männer gefallen waren oder sich noch in Kriegsgefangenschaft befanden, leisteten vor allem Frauen die Schwerstarbeit bei den Aufräumarbeiten. Insgesamt wurden 372 000 cbm Schutt aus Zerbst transportiert. Das entspricht einer Schuttmasse von 20,6 cbm pro Einwohner.
Sie haben die ersten Steine geputzt. Haben für ihre Stadt das Möglichste getan. Viele deckt heute schon der kühle Rasen zu.
Noch heute sprechen viele Zerbster von ihren Trümmerfrauen. Bis zu 30 Trümmerzüge wurden täglich beladen und fuhren außerhalb der Stadt zum „Mont Klamott!“ Leistungen ohne Gleichen.
Martha Hesse, die Trümmerfrau und spätere Verkäuferin sagte einmal: „Die besten Jahre meines Lebens war ich Trümmerfrau! Was haben wir geschippt – wie haben wir das bloß geschafft? Es hat nichts Vernünftiges zu essen gegeben, nur trocken Brot und grüne Gurken im Sommer und im Winter Holzpantoffeln an den Füßen!“
Die Aussagen der Trümmerfrauen tragen soviel Wahrheit in sich und sind gleichzeitig Botschaften an die heute Lebenden.
Das unsagbare Leid ringsum ließ aber keine Resignation zu. Es musste weitergehen - egal wie.
Trotz meiner neun Jahre, die ich damals alt war, sehe ich sie noch vor mir, die Bürger, die unmittelbar nach der Katastrophe die Initiative ergriffen, darunter auch die ehemaligen Trümmerfrauen unserer Stadt.
Als die Enttrümmerungskolonnen auf dem Fischmarkt angelangt waren, standen wiederum die Mütter und Väter und versuchten noch da oder dort in den Trümmern, ein kleines Stück aus ihrer Wirtschaft zu finden. Im Besitz meiner Familie, so wird es bestimmt bei vielen sein, ist noch heute ein Teller, welcher von der Hitze eingebrannt wurde und ein kleiner Porzellanhund, den mein Vater als Kind auf dem Schützenplatz erwarb, ein kleines Stück Fischmarkt – eine kleine Erinnerung. Sonst hatten wir nur das, was am Körper war.

Fischmarkt - Ferkelmarkt

Die legendären Lockführer der Zerbster Trümmerbahn - Paul Laubert (†) und Walter Neumann (†), fuhren dann von 1947 bis 1952 die Schuttmassen aus der Stadt.
Die heute älteren Bürger unserer Stadt Zerbst erinnern sich immer wieder an die furchtbaren Stunden des Chaos nach der Zerstörung.
Steine und Ziegel wurden zur Wiederverwendung extra gelagert und anschließend zerbrochen. Eine Masse, welche in einem Quaderhohlkörper mit einer Kantenlänge von 70 Meter, die Nicolaikirche als sie noch ganz war, vier Mal vereinnahmt.
Als „Kinder vom Fischmarkt“ erlebten wir aber auch in dieser Zeit mehr Achtung vor dem Mitmenschen, mehr Verständnis und mehr Hilfsbereitschaft, mehr Verantwortung für den Nächsten. Es gab keine Überlegungen von wem die Hilfe kam. So stellt sich doch die Frage, wie soll heute die Welt im Großen friedlich sein, wenn schon in unserem engeren Umfeld diesem Anspruch - so oft nicht genügt wird? Wenn Streit, Auseinandersetzung und Kriminalität - wenn also Kriege im Kleinen gewissermaßen – die Szenerie beeinflussen und manchmal sogar schon beherrschen?
Die Tage um den 16. April bis Ende Mai 1945 sind im Jahre 2005 angefüllt mit vielen Veranstaltungen, wie in ganz Deutschland.
Das Erinnern wird im Jahre 2005 noch einmal umfassend sein, denn viele Zeitzeugen wird es bald nicht mehr geben. Weiterhin werden Heimatkundler und Historiker über das gewesene und erlebte Elend weiter diskutieren.
Erst wenn alle Gewalt und Kriege auf unserer Erde der Vergangenheit angehören, wenn es, wie einmal Carl von Clausewitz formulierte: „Der Krieg ist die Durchsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ nicht mehr gibt, dann muss Frieden für immer sein.
Wenn also erst Krieg und Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer und wirtschaftlicher Interessen geächtet werden, hat die Menschheit endlich bewiesen, dass sie aus der Geschichte gelernt hat. Aber alles muss jährlich wieder genannt werden, damit es nicht vergessen wird.
Wir müssen Verantwortung übernehmen. Nicht dafür was 1945 passiert war, sondern für das was noch alles auf uns zukommt.